#9: Zum wissenschaftlichen Fehlverhalten in der Politik

Wenn man (oder frau) an dem Punkt angekommen ist, sich für eine Dissertation zu entscheiden, wurden in der Regel mehrere akademische Stationen durchlaufen. Nach dem Abitur begann es typischerweise mit Tutorien, Übungen oder anderen Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten. Hausarbeiten wurden geschrieben, Prüfungen abgelegt, Bachelorabschlüsse, Zwischenprüfungen oder Vordiplome absolviert, Haupt- und Oberseminare mit entsprechenden Hausarbeiten belegt, Master-, Magister- oder Diplomarbeiten mit intensiver Betreuung durch Lehrende geplant und geschrieben, und Abschlussprüfungen abgelegt. Damit wurden die Qualifikationen für die Befähigung zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten unter wissenschaftlicher Anleitung belegt. Wer behauptet, bis dahin nie gelernt zu haben, was ordentliche Zitierweisen sind und was ein Plagiat ist, sagt die Unwahrheit.

Nach der individuellen Dissertationsentscheidung muss ein*e Professor*in konsultiert werden. Das ist wie ein Bewerbungsgespräch. Schließlich hängt nicht nur die eigene Karriere des Doktoranden oder der Doktorandin daran, sondern auch die wissenschaftliche Reputation der Betreuerin oder des Betreuers. Wem die Wissenschaft etwas bedeutet sind diese Regeln nicht egal. Genau darum ja soll es gehen: Eine Dissertation ist nicht irgendein Blog oder Tagebuch, kein journalistischer Meinungsartikel, kein Roman, und keine Spaßarbeit: Sie soll ein ehrliches Bemühen um eigene wissenschaftliche Arbeit sein, in quasi altmodischer (im guten Sinne) mittelalterlicher scholastischer Betreuung. Dies ist ein Austausch zwischen Schüler*in und Meister*in, der mehrere Jahre dauern wird, und in dem Ehrlichkeit und Akzeptanz wissenschaftlicher Regeln klar vorausgesetzt werden. Die Dissertation ist das Hochamt der Wissenschaftlichkeit und keine Simulation zur reinen Karriereförderung.

Akademischer Betrug passiert nicht einfach so. Natürlich können sich immer mal wieder echte Fehler einschleichen. Man kann etwas formulieren, das zufällig in die Nähe der Aussage eines anderen gerät. Manche Formulierungen sind so nahe an Gemeinplätzen, dass ein Anspruch auf Originalität lächerlich wäre. Aber in der Regel kennt man seine Quellen gut genug, dass man selbst indirekte Zitate belegt. Deshalb ist eine Dissertation ja so anstrengend: Echte wissenschaftliche Arbeit ist mühsam und langwierig. Es ist eine Form des Schreibens, bei der jeder Halbsatz auf Belegbarkeit (und Belegnotwendigkeit) geprüft werden muss.

Die meisten Studierenden betrügen nicht. In meiner eigenen Lehrtätigkeit habe ich nur wenige Fälle echten Betrugs erlebt, und sie resultieren meist aus zwei Gründen: Im ersten Fall fehlt die fachliche und akademische Eignung, und dann wird halt betrogen – aber meistens so schlecht, dass man es auch einfach bemerken kann (wenn man wirklich ungeeignet ist, kann man auch nicht gut betrügen). Im zweiten Fall besteht einfach so großer zeitlicher Druck, dass irgendetwas zusammengeklaubt wird, das aber auch dann nicht überzeugt. Es gibt mit Sicherheit noch eine dritte Möglichkeit, nämlich die eines Betruges, der so raffiniert begangen wird, dass er nicht leicht zu bemerken ist. Das ist dann aber auch irgendwie eine Fleißarbeit, die zwar nicht akademisch belohnt werden sollte, aber schon fast wieder anerkennenswert wäre – dieselbe Person hätte allerdings genauso viel Energie in eine ehrliche Arbeit stecken können.

Politiker, die akademische Arbeiten zur Laufbahnoptimierung missbrauchen, sollten es damit auch ernst meinen. Wenn sie dann nachweislich Betrug begehen, ist es nun einmal Betrug, und in der Regel auch Vorsatz. Das passiert nicht so nebenbei, und darf dann auch nicht einfach so weggewischt werden, egal wie „gut“ die entsprechende Person angeblich ist. Es handelt sich hier um eine Charakterfrage, nicht mehr und nicht weniger. Auch gegebenenfalls bei dem oder der Betreuer*in.

Sicherlich können Wähler sich dennoch für jemanden entscheiden, bei denen Betrug nachgewiesen wurde. Aber als moralische Vorbilder – was Politiker irgendwie ja auch sein sollten – können Betrüger*innen nun einmal nicht mehr herhalten.